Gewaltopfer demonstrierten vor dem Bundesverfassungsgericht

Für würdevolle Behandlung in staatlichen Opferentschädigungsverfahren

Initiiert durch die Bürgerinitiative „Soko Opferschutz“ fand am Montag, den 13.09.21 vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine Demonstration von Gewaltopfern statt. Es ging vor allem darum, auf die gravierenden Missstände in staatlichen sozialen Opferentschädigungsverfahren aufmerksam zu machen, allen voran, dass Gewaltopfer sich bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche einer Flut an Schuldzuweisungen, Demütigungen und sogar Diskriminierungen seitens der Behörden und Gerichte ausgesetzt sehen.

Obwohl die Gruppe bei diesem ersten Mal nur aus 12 Teilnehmern bestand, führten unsere Plakate und Banner doch dazu, dass etliche Passanten sich für die Thematik interessierten.

Zwei Aspekte lösten dabei bei allen interessierten Personen ungläubiges Staunen, deutliches Entsetzen und glaubwürdige Empörung aus:

  1. Die geringe Anzahl der Anspruchsberechtigten, die überhaupt staatlich verpflichtende soziale Opferentschädigung (OEG) erhalten.
  2. Die regelmäßig und definitiv einzelfall- und bundeslandübergreifend geschilderten Vorgehensweisen der zuständigen Behörden / Sozialgerichte, wenn ein Gewaltopfer diese Ansprüche geltend macht.

Wir erhielten nämlich Gelegenheit, darüber zu informieren, dass im Schnitt ohnehin nur etwa 10 % der Gewaltopfer überhaupt einen OEG-Antrag stellt und am Ende von diesen ohnehin bloß ca. 10% nicht einmal die Hälfte überhaupt Leistungen nach dem OEG erhält.

Wir durften den Passanten schildern, wie extrem schmerzhaft und demütigend oftmals in den Verfahren mit uns umgegangen wird. Dass wir nicht selten re-viktimisierend und oft regelrecht re-traumatisiert werden durch eine erkennbar auf Anspruchsabwehr fokussierte Verfahrensführung.

Beispielhaft konnten wir berichten, dass regelmäßig sogar (ehemals) kindlichen Opfern sexuellen und körperlichen Missbrauchs Vorhaltungen gemacht werden wie „Sie haben sich damals nicht gewehrt! oder auch „Sie haben sich damals nicht genug gewehrt!“

Wir beschrieben, dass bei denen, die diese Hürde nehmen, sodann im Auftrag des Staates von Psychiatern akribisch und oft sehr erfinderisch - und entgegen evidenz- und konsensbasiertem medizinischem Standard – mikroskopisch nach vor den Gewalttaten bestehenden seelischen und emotionalen (angeblichen) Defekten beim Betroffenen gesucht wird. Und/oder auch behauptet wird, die nach Gewalterlebnissen typischen psychischen Störungen und etwaige Erwerbsminderung seien doch bestimmt nicht auf den Missbrauch / die Misshandlungen zurückzuführen, sondern auf spätere Arbeitsplatzkonflikte, Trennungen, Scheidungen uvm.

Wir mussten auch eingestehen, dass das Bundessozialgericht sich ebenfalls nicht schützend vor die Betroffenen stellt. Dass angesichts der Statistiken und der Berichte zahlreicher Anwälte sich vielmehr der Eindruck aufdrängt, dass die Sozialgerichtsbarkeit bis rauf zum BSG den Blick viel eher darauf gerichtet hat, den „Fehler“ des Gesetzgebers, Gewaltopfern Entschädigung zu versprechen, „einzusammeln“.

Passanten erfuhren, dass entgegen den wohlklingenden Versprechungen des Staates die meisten Gewaltopfer nicht nur auf ihren oftmals lebenslangen Schäden sitzenbleiben, sondern nach den Gewalterlebnissen in den Verfahren gerade durch die Art der Verfahrensführung - vermeidbar - zermürbt, gedemütigt, entwürdigt werden.

Die friedliche Demonstration vor dem Bundesverfassungsgericht am 13.09.21 - stellte für uns den ersten Schritt dar, deutlich zu machen, dass wir nicht länger bereit sind, diese menschenunwürdige, zerstörerische Verfahrenspraxis zu ertragen.

Wir wollen in den Verfahren würdevoll behandelt werden !
Wir sind nicht wertlos, nur, weil wir unverschuldet Gewaltopfer wurden !

So lange das nicht endlich geschieht, so lange wir nicht - auch in sozialen Opferentschädigungsverfahren - vom Staat als Träger der Menschenwürde behandelt werden, werden wir weiter demonstrieren.

Das nächste Mal vor dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Berlin.

Wir hoffen, dass unser Mut andere ermutigt. Dass es Schritt für Schritt mehr werden, die sich zu einem „Coming-Out“ trauen. Gesicht zeigen und mit einem solchen authentischen „MeToo“ die „Einzelfall“-Legende widerlegen.   


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